Ein Plädoyer für Innovation und Kompetenzorientierung
Sebastian Kuhn
Die Profession des Arztes ist einer der ältesten Berufe der Menschheitsgeschichte und auch das Medizinstudium blickt auf eine jahrtausendalte Tradition zurück. Generationen von Lehrenden stellten sich in verschiedenen Zeitaltern immer wieder die gleiche Frage:
„Welche Kompetenzen braucht ein Arzt?“
Gehen wir zurück in das Jahr 1296. In der Chirurgia Magna beschreibt Guido Lanfranchi folgendes Kompetenzprofil:
“A surgeon should have well-formed hands, long slender fingers, a strong body, not be inclined to tremble, be well grounded in natural science and should know not only medicine but every part of philosophy…“
Wir reisen mehr als 700 Jahre in die Zukunft und kommen im hier und jetzt an, in der Medizin im digitalen Zeitalter.
Ich stelle fest, dass das von Guido Lanfranchi beschriebene Kompetenzprofil auch 2017 weiterhin Gültigkeit besitzt. Aber gleichzeitig denke ich, dass zum heutigen Anforderungsprofil doch etwas fehlt und deshalb möchte diesem Zitat einen Halbsatz hinzufügen:
“A surgeon should have well-formed hands, long slender fingers, a strong body, not be inclined to tremble, be well grounded in natural science and should know not only medicine but every part of philosophy … and have digital competencies.“
Ich selbst bin Arzt, Unfallchirurg und Orthopäde, Forscher, Medizindidaktiker und, was die Bildung angeht, jemand, der sich mit dem Status quo nicht zufriedengeben will.
Medizin im digitalen Zeitalter… für mich wirft dies eine Reihe von Fragen auf:
Wie haben sich Ärzte und Patienten im digitalen Zeitalter verändert?
Wie hat sich die medizinische Praxis verändert?
Wie sieht die Zukunft der Medizin und die des Medizinstudiums aus?
Der Prozess der Digitalisierung betrifft viele Aspekte der Medizin. Wir werden diese gemeinsam erarbeiten:
SOCIAL, SMART DEVICES, APPS, NETWORKS, AUGMENTED REALITY, BIG DATA, ….
Beginnen wir mit SOCIAL. Soziale Netzwerke und Mikroblogging-Dienste sind ein zentraler Teil der menschlichen Kommunikation geworden. Neben Facebook und Twitter haben sich auch vielerlei medizinische Netzwerke gebildet. Wenn man die Beziehungsstruktur vereinfacht, kommunizieren hierbei im wesentlichen Patienten und Ärzte miteinander. Dabei können die Kommunikationswege und der -inhalt sehr unterschiedlich sein.
Patient – Patient
Websites wie patientslikeme.com verbinden Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen. Sie bieten die Chance, dass Patienten mehr über ihre Erkrankung erfahren, verstehen und sich gegenseitig unterstützen, eine digitale Selbsthilfegruppe sozusagen. Dies beinhaltet aber auch eine Reihe von Risiken, vornehmlich das Risiko der Verbreitung von Fehlinformation und das einer langen Persistenz dieser Fehlinformation in den jeweiligen Foren.
Arzt – Patient
Es existieren vielfältige Beispiele für die digitale Arzt-Patienten-Kommunikation, eines davon stellt jedoch derzeit einen fundamentalen Wandlungsprozess in der klinischen Forschung dar. Während früher, bedingt durch ein spezifisches Profil der gesuchten Patienten, meist Jahre notwendig waren, um eine adäquate Anzahl von Patienten für eine wissenschaftliche Studie zu rekrutieren, hat sich dieser Vorgang durch die Nutzung von sozialen Netzwerken zum Teil auf wenige Tage bis Wochen reduziert.
Arzt – Arzt
Im Frühsommer 2011 trat in Deutschland eine EHEC-Epidemie auf, die durch Toxin-bildende Echerischia coli verursacht war und rund 3000 Menschen in Deutschland infizierte. 53 Menschen verstarben innerhalb weniger Wochen. Die Entschlüsselung der DNA des krankheitserregenden Stamms gelang am Genome Institute in Peking. Anstatt eine klassische wissenschaftliche Publikation in einer Fachzeitschrift anzustreben, wurden die Ergebnisse tagesaktuell unter einer Creative Commons-Lizenz geteilt. Innerhalb weniger Stunden löste dies ein kollaboratives Arbeiten auf vier Kontinenten aus. 24 Stunden nach der Freigabe des Genoms war ein Gene-Assembly erreicht. Nach 2 Tagen konnte diese einem bestehenden Sequenztyp zugeordnet werden. 5 Tage nach der Freisetzung der Sequenzdaten waren stammspezifische diagnostische Primersequenzen entworfen und freigegeben. Innerhalb einer Woche waren zwei Dutzend Publikationen erschienen, die neben der Abstammung relevante Informationen über die Virulenz- und Resistenzgene des Bakteriums aufklärten.
Dies sind drei Beispiele von digitaler Kommunikation im medizinischen Kontext, die stellvertretend für zigtausende beschreiben, wie SOCIAL derzeit den Wandel der Medizin im digitalen Zeitalter vorantreibt.
Kommen wir zum 2. Thema: SMART DEVICES und APPS.
Einen Tag in der Woche bin ich Teil eines interdisziplinären Teams, welches sich zur Besprechung unklarer Fälle von Schmerzpatienten trifft. Wir sehen auch hier einen Wandel durch die Digitalisierung. Viele Patienten geraten in einen Kreislauf von Schmerz – Angst – Vermeidungsverhalten. Einfache Fitness-Apps kommen hierbei zum Einsatz, um dieses Vermeidungsverhalten zu unterbrechen. Oftmals führen Patienten dies bereits in Eigenregie durch, teilweise auch unterstützt durch Ärzte oder Psychologen. Erste klinische Studien konnten die Effektivität dieser Intervention bereits belegen.
Es kommen jedoch auch zunehmend medizinische Apps auf den Markt, die als Medizinprodukt entwickelt wurden und einen entsprechenden Zulassungsprozess, teilweise mit FDA-Approval, durchlaufen. Beispielhaft ist hier die EpiWatch von der John Hopkins University zu nennen, einer App für die Apple Watch. EpiWatch hilft Patienten und Ärzten, Epilepsie besser zu verstehen, indem sie Anfälle und mögliche Auslöser, Medikamente und Nebenwirkungen verfolgt. Ähnliche Programme existieren für Herzrhythmusstörungen. Die Vorstellung, dass im Rahmen dieser Programme Daten von zehntausenden von Patienten analysiert werden, eröffnet einen immensen Horizont für die klinische Forschung.
Kommen wir zu unserem 3. Thema für diesen Beitrag: NETWORK
Meine Hauptaufgabe der vergangenen Jahre bestand in der Etablierung und Koordination eines TraumaNetzwerks für die Region Mainz-Rheinhessen. Der Unfalltod ist die häufigste Todesursache für Menschen unter 40 Jahren. Unfälle treten 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche und 365 Tage im Jahr auf. Die häufigsten Unfallarten sind hierbei Verkehrsunfälle und Stürze aus großer Höhe. Der Sturz aus großer Höhe hat hierbei fast schon symbolischen Charakter, denn das TraumaNetzwerk muss den Verletzten „auffangen“ und den Schaden des Unfalls minimieren, genau wie ein Sicherungsnetz. Die Versorgung findet in über 600 Kliniken deutschlandweit statt. Häufig wird jedoch nach der Erstuntersuchung und Diagnostik festgestellt, dass die definitive Versorgung der Patienten in einem anderen Krankenhaus erfolgen muss. Während der Patient mittels Rettungshubschrauber transportiert wird, ermöglicht der effektive Einsatz der digitalen Netzwerkstrukturen den Austausch von Informationen, Laborwerten und Bilddaten in dieser zeitkritischen Situation. Die Etablierung der TraumaNetzwerke hat in den vergangenen 10 Jahren die Sterblichkeit bei Mehrfachverletzten entscheidend gesenkt. Hierbei bilden die digitalen Technologien das Rückgrat dieser Versorgungsnetzwerke, und deren sichere Anwendung ist essentiell für die beteiligten Ärzte.
SOCIAL, SMART DEVICES und NETWORK, dies sind nur 3 Beispiele. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Medizin im digitalen Zeitalter bereits fundamentale Veränderungen in Bezug auf Patienten, Ärzte und medizinische Praxis erfahren hat. Diese Entwicklung erfordert neue Kompetenzen und somit auch ein neues Kompetenzprofil der angehenden Ärzte.
Kommen wir nun zur schlechten Nachricht:
Bisher werden diese Kompetenzen im Rahmen des Medizinstudiums nicht vermittelt.
Als Lehrender habe ich dies als klaren Arbeitsauftrag verstanden und als Startpunkt für dieses Projekt gesehen. Mit all den Vor- und Nachteilen, Chancen und Risiken die die Digitalisierung mit sich bringt:
Wir werden die Veränderungen nicht verhindern, sondern nur mitgestalten können.
In den vergangenen 12 Monaten habe ich eine Projektgruppe gegründet, mit der ich das veränderte Kompetenzprofil angehender Ärzte analysiere, Lehrkonzepte entwickele und diese implementiere. Medizin im digitalen Zeitalter wird gemeinsam mit den Studierenden, Dozenten und einer Reihe von ePatienten ab dem 29. Mai 2017 als curriculares Reformprojekt der Universitätsmedizin Mainz erstmals stattfinden. Ich freue mich mit Ihnen über diesen Prozess zu diskutieren!
Priv.-Doz. Dr. med. Sebastian Kuhn, MME
Twitter @digitalmedizin
Bedanken möchte ich mich beim Stifterverband, der im Rahmen des mit der Carl-Zeiss-Stiftung gemeinsam initiierten Programms „Curriculum 4.0“ Medizin im digitalen Zeitalter fördert.